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Wie man aus Kindern Piraten macht

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Author:

Knut Wimberger

Short summary:

Migration verändert homogene Gesellschaften. Umweltbildung ist ein nachhaltiger Beitrag zur Integration von Zuwanderern und schafft ein neues Konzept von Heimat, welches nicht auf gemeinsamer Kultur sondern gemeinsamer Natur beruht.

Wie man aus Kindern Piraten macht

Nature Journal - Feb. 21, 2021

Seit November ziehen wir einmal im Monat als Plastik Piraten durch dieses Grätzl, welches wir seit September unser neues zuhause nennen, und sammeln mit Greifern, Handschuhen und Müllsäcken den Unrat, welcher von Mitbürgern achtlos in die Natur geworfen wird. Das vierte Mal waren wir heute als Plastic Pirates rund um die alte Glanzstoff Fabrik unterwegs. 19 Kilogramm haben wir in knapp zwei Stunden Raubzug erbeutet. Zeit, Resümee zu ziehen.

Ich hatte mir Österreich anders vorgestellt. Zumindest hatte ich es anders in Erinnerung. Sauber. Ordentlich. Naturverbunden. 20 Jahre war ich im Ausland. Jetzt bin ich mit meinen Kindern wieder im Land und bin enttäuscht und gleichzeitig besorgt. Enttäuscht über den Zustand der Natur in St. Pölten und Umland. Besorgt über die Apathie, mit der diesem Zustand begegnet wird, und über die schwelende Wut, die ich in den Gesprächen mit Anrainern erkenne.

Seit 10 Jahren sammle ich Müll. Begonnen hat alles mit einem Urlaub in den Philippinen auf der Insel Boracay, wo ich mein kiteboard an einem von touristischen Abwässern verunreinigten Strand surfen musste. Kein Spass. Zuerst war da nur Enttäuschung, dann kam aber schnell der Entschluss auch selbst etwas beitragen zu müssen. Die Insel wurde wenige Jahre später wegen ökologischem Supergau für den Tourismus völlig geschlossen, aber ich hatte mir angewohnt, einen Tag meines Urlaubs Müll sammeln zu gehen und auf diese Weise meinem Gastland etwas zurückzugeben.

Seit drei Jahren gehe ich regelmäßig einmal im Monat auf Abfalljagd - egal wo ich bin. Meine Frau ist noch immer irritiert, aber die Kinder sind gerade wenn wir neue Strecken ablaufen gerne dabei. Auch in St. Pölten wollten wir am Sonntag eine neue Strecke kennenlernen, da ich geglaubt hatte, dass drei Reinigungen rund um die Glanzstoff ausreichend waren. Überdies hatte der städtische Abfalldienst kurz nach unserem Jänner Einsatz den Müll entlang der Herzogenburgerstrasse gründlichen entsorgt.

Leider nicht. Bei Nebel und leichtem Regen gingen wir unsere gewohnte Route und beim Erreichen des Traisenpark Süd war unser Bollerwagen voll mit Müll beladen. Bedenklich ist dabei, dass mehr als 80% unserer Beute aus Neuverunreinigung besteht, dh er wurde zwischen unserem letzten Einsatz und Sonntag in der Natur entsorgt.

Die Auseinandersetzung mit Müll ist ein vielleicht nicht angenehmer aber unglaublich prägender Vorgang. Auf mehreren Ebenen. Physisch betrachtet bücke ich mich auf einer Plastic Pirates Tour mindestens 200 mal und habe einen gesunden workout an der frischen Luft gemacht. Emotional gesehen fühlt es sich gut an, ein Stück unseres Planeten von Oberflächenverschmutzung zu befreien – nach solch einer Aktion schmeckt das Abendessen besser und ich sinke danach zufrieden in das Sofa.

Man macht sich auch allerhand Gedanken. Was für Müll ist da draussen? Welche Menschen werfen diesen so achtlos weg? Was geht in diesen vor? Was denkt der Biber, den wir dieses Mal endlich zu Gesicht bekommen haben, wenn er zwischen Plastikabfall lebt? Wie kann man dieser menschlichen Apathie und wohl auch Aggression begegnen? Was braucht es um in einer Gesellschaft mehr Respekt für öffentliches Gut zu schaffen?

Wir kommen nie dazu den Altbestand aus dem Restauwald neben dem Mühlbach – meine Kinder nennen ihn nun Müllbach – zu befördern, denn in den vier Wochen zwischen unseren Einsätzen füllt sich die Natur mit neuem Müll. Dieser setzt sich aus etwa 60% Restmüll, 30% Aluminium Dosen und 10% Glas zusammen. Auffallend ist, dass ein Grossteil der Aluminiumdosen Energydrinks sind – diesen Konsumenten kann eigentlich kein Vorwurf gemacht werden, denn sie waren zu aufgeputscht, um den Mülleimer wahrzunehmen. Ein geringerer Teil besteht aus Bierdosen. Dieser Konsument wiederum schafft es meist bereits schwer sediert nicht mehr bis zum Mülleimer oder kann sich seines Vergehens nicht mehr erinnern. Also ebenso schwierig zu ahnden.

Dann gibt es noch eine substanzielle Anzahl an Zigarettenschachteln. Mir war nicht bewusst, dass noch so viele Menschen rauchen. Mit den Kippen, die rund um Bänke liegen, könnte man bestimmt nochmal zwei große Säcke füllen. Irgendwann sollte das gemacht werden, denn wohlgemerkt verunreinigt eine Kippe 40 Liter gutes Trinkwasser. Etwa ein Drittel des Restmülls stammt von McDonalds. Dieses Unternehmen wirbt derzeit weit über die Grenzen der Meinungsfreiheit hinweg mit „Berühren erlaubt. Deine Handvoll Normalität.“ Auch geordnet Wegwerfen ist erlaubt und ist Teil von Normalität.

Nach Jahren in der Automationsindustrie ist zumindest mir bewusst, dass unsere Industriegesellschaften Verpackungen höchst effizient mit Robotern und Fertigungsanlagen produzieren. Müll, den wir ungeordnet in die Natur werfen, wird jedoch die kommenden Jahre noch von Menschenhand gesammelt werden müssen. Es gibt noch keine geeigneten Maschinen dafür. Wenn wir also nicht Gefahr laufen wollen im eigenen Müll, so wie im Pixar Film Wall-E dargestellt, zu ersticken, dann müssen wir jetzt geeignete Maßnahmen ergreifen. 

Intrinsische und extrinsische Motivation

Diese Maßnahmen lassen sich schnell auf das Thema Motivation zurückführen. Warum verhalten wir uns so wie wir es uns von anderen erwarten würden? Warum verhalten wir uns überhaupt in einer gewissen Weise? Sind es eigene Ideale und Maßstäbe oder sind es die Maßstäbe anderer und der Gesellschaft, die uns dazu führen Dinge zu tun oder sie zu unterlassen? 

Der moderne Mensch ist sich selbst genug und interessiert sich nicht mehr was andere von ihm denken solange er auf facebook oder instagram Gefallen gefunden hat. Die moderne Gesellschaft zieht sich von den wichtigen Fragen immer mehr zurück. Man lebt Pluralität in jeder Hinsicht. Sexualverhalten. Konsumverhalten. Wegwerfgewohnheiten. Just do it.

Das Resultat ist eine orientierungslose Jugend, gelähmte Eltern, überforderte Lehrer und ein kulturelles Schwächeln. Was bedeutet es eigentlich noch von hier zu sein? Berechtigt von einem Ort zu sein dazu seinen Müll in der Natur zu entleeren oder Verantwortung für diesen Ort zu übernehmen und die Natur von Abfall zu befreien? Wie lange funktioniert eine Form des Zusammenlebens, die keine grundlegenden Verhaltensnormen etabliert und positive Anreize schafft, diesen Folge zu leisten?

Der renommierte Sinologe Oskar Weggel schrieb im Jahr 1997 über eine Zukunft mit 12 Milliarden Menschen, eng gewordenen Räumen und knappen Rohstoffen: in einer solchen Umgebung muß die Verherrlichung des Individuums, wie sie sich in der neuzeitlichen Philosophie – und in den westlichen Industriestaaten – durchgesetzt hat, durchaus als „Luxusschöpfung“ erscheinen, die weder der Menschheitsgeschichte insgesamt noch den Perspektiven eines „posteuropäischen“ Zeitalters angemessen ist.

Der klassische Konfuzianismus war ein Kind der Not – und erteilte als solches Antworten auf die Frage, wie Verteilungskämpfe unblutig gelöst und wie Formen dichten Zusammenrückens möglichst konfliktfrei gestaltet werden können. Im Zeichen abnehmender Optionen und zunehmender Beengung könnte er sich erneut als Zuflucht und Ratgeber erweisen! Globalisierung würde sich dann andersrum, nämlich von Ost nach West entfalten!

Es drängt sich ein Vergleich mit dem Stadtstaat Singapur auf, in welchem ungefähr so viele Menschen wie in Österreich leben. Seit 1968 werden dort die Bürger erzogen, ihr Land sauber zu halten und dies nicht nur mit sanften Anweisungen, sondern mit deftigen Strafen von mindestens 300 Singapur Dollar. Über 56000 Personen sind als freiwillige Müllsammler registriert und unterstützen die Regierung in ihren Anstrengungen Singapur zu einem Modellland werden zu lassen. Vor allem Rentner treffen sich gerne in Gruppen und ziehen wie die raubenden Hunnen durch die Gegend.

In Singapur haben beide Formen der Motivation im Zusammenspiel zu einer besser Umweltsituation geführt. Einerseits sind hohe Geldstrafen eine extrinsische Motivation nichts wild zu entsorgen, andererseits sind die Gruppen, die sich gerne und wiederholt zum Müllsammeln treffen, eine Gelegenheit zu sozialisieren und sich sinnvoll zu betätigen, anstatt bei Netflix und McDonalds zuhause zu vereinsamen.

Dass etwas unternommen werden muss liegt auf der Hand. Ein Mitarbeiter der Stadtgärtnerei hat uns vor kurzem am Viehofner See erzählt, dass er uns ein Kollege ausschließlich mit Müllsammeln beschäftigt sind. Alle 5-10 Tage fahren sie im Winter eine Runde um den See, im Sommer täglich. Die Ladefläche ihres Einsatzwagens sei immer voll. Seit Corona habe sich der Müll verdoppelt, weil die Leute viel mehr draußen wären. Wie würde sich das Wegwerfverhalten ändern, wenn entlang des Mühlbaches oder bei den Parkplätzen am Viehofner See Überwachungskameras aufgestellt werden und littering mit Geldstrafen geahndet wird?

Die Rolle von Umweltbildung

In den 80er Jahren als ich in der verschmutzten Industriestadt Linz aufwuchs und dort zur Volkschule ging war Mülltrennung gerade zu einem Teil der Pflichtbildung geworden. Bis dahin fand man in jedem Wald wild entsorgten Schrott und eine einzige kleine Blechmülltonne stand vor jedem Haus in unserer Siedlung. Schritt für Schritt wurde Mülltrennung eingeführt und uns Kindern wurde die Trennung von Abfall in Papier, Glas, Metall, Plastik quasi eingeimpft – wie passend in Zeiten wie diesen wäre eine solche Impfung.

Österreich hat sich in den vergangenen 30 Jahren zu einem Einwanderungsland gewandelt. 1.8 von 8.5 Millionen Einwohner hatten im Jahr 2015 einen Migrationshintergrund. Damit ist Österreich zu einer weltweit führenden Immigrationsdestinationen avanciert und liegt – wenn man Kleinstaaten wie Singapur, Zypern oder die Vereinigten Arabischen Emirate vernachlässigt - in Europa an erster und weltweit in führender Position.

Es bestehen jedoch zwei gravierende Unterschiede zu bekannten Immigrationsländern wie die USA, Neuseeland, Kanada oder Australien:

1. Österreich hatte bis in die 1960er Jahre trotz der Geschichte als Vielvölkermonarchie keine Einwanderer aus kulturell fremden Ländern und ist dadurch eine kulturell eher homogene Gesellschaft.
2. Einwanderer nach Österreich stammen im Gegensatz zu den angelsächsischen Nationen seit jeher aus einkommensschwachen und relativ ungebildeten Schichten.

Durch diese speziellen Rahmenbedingungen spitzt sich in Österreich bereits jetzt eine Situation zu, die laut ernstzunehmenden Ökologen bald für die gesamte Welt das „new normal“ bilden wird: der Klimawandel wird in der kommenden Dekade zu Massenwanderungen führen, die den Begriff von Heimat grundlegend verändern werden. Heimat muss zunehmend durch eine Verantwortung für ein Ökosystem definiert werden – nicht jedoch durch kulturelle oder religiöse Konfessionen, die Menschen im selben Ökosystem gegeneinander anstatt miteinander agieren lassen.

Umweltbildung kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Die Schaffung eines Bewusstseins für die unmittelbaren Lebensräume im Kindesalter hinterlässt einen Respekt gegenüber der Natur und Spuren im Verhalten, welche nur schwer zu verwischen sind. Jene Prägungen der Kinder aus den 80er Jahren müssen nun mit derselben Nachdringlichkeit unseren neuen Mitbürgern angedeihen, um sie nachhaltig in unsere Gesellschaft zu integrieren und unser aller Heimat für die nächste Generation zu bewahren.

Mit Plastic Pirates, einem Format welches wir vor drei Jahren in Shanghai entwickelt haben, versuchen wir den Weg der intrinsischer Motivation und laden vor allem Kinder und Familien ein, auf eine spielerische Art und Weise „stewardship“ für einen kleinen Teil unseres Planeten zu übernehmen. Unsere Teilnehmer werden kriegerisch geschminkt und erhalten eine Augenklappe mit der es umso schwieriger wird die Greifer so zu bedienen, dass man tatsächlich etwas in gemeinsamen Müllbeutel befördert.

Green Steps kombiniert Best Practices aus alternativer Pädagogik und neuester Lernpsychologie, um das Lernergebnis und die Erfahrung der Teilnehmer zu verbessern. Kinder schließen sich zu kleinen Piratencrews zusammen und füllen Müllsäcke, die mit einer elektronischen Waage gewogen werden. Kinder lernen in einem Eröffnungskreis die verschiedenen Arten von Müll im Allgemeinen und Plastik im Besonderen kennen.

Wir verwenden Storytelling und Objektmanipulation als Methode, um das Langzeitgedächtnis zu stärken und gesunde Gewohnheiten zu etablieren. Der Inhalt aller Müllsäcke wird gemeinsam sortiert und jedes Kind nimmt ein Objekt und erzählt in einem Reflektionskreis eine Geschichte darüber, wie es in der Natur gelandet ist. Veranstaltungen wie Plastic Pirates werden in Stadtteilen mit einem hohen Prozentsatz an Einwohnern mit Migrationshintergrund organisiert. Kinder lernen auf spielerische Weise, die Umwelt zu respektieren, und als Gruppe dabei Spass zu haben.

Interessiert? Schau auf unsere Eventplattform und werde Pirat!

REFERENCES:
· Knut Wimberger, The Future of Work and What We Can Do Now
· Oskar Weggel, China im Aufbruch: Konfuzianismus und politische Zukunft
· BBC: The cost of keeping Singapore clean
· Die Presse: Braucht Österreich Einwanderung?
· Der Spiegel: Was ist Heimat?
· Philosoph David Richard Precht: Von der Pflicht